Bericht der FH Erfurt zum Klimaschutzkonzept – Bereich Verkehr und Mobilität

Die Landeshauptstadt Erfurt beabsichtigt, die CO2-Emissionen des Jahres 2008 bis zum Jahr 2020 um 30 % zu reduzieren. Mit Förderung durch das Bundesumweltministerium ist im August 2009 die Fachhochschule Erfurt beauftragt worden, hierzu ein Klimaschutzkonzept zu erarbeiten, um die Einsparungsmöglichkeiten in den Bereichen Energiegewinnung, Gebäudeenergienutzung sowie Mobilität und Verkehr aufzuzeigen. Der vorliegende, vom Institut Verkehr und Raum der FH Erfurt erarbeitete Bericht dokumentiert die Ergebnisse für den Bereich Mobilität und Verkehr.

Zusammenfassung des Berichtes

Hier wird eine Zusammenfassung des Berichtes wiedergegeben. Die Ergebnisse fanden Eingang in das Handlungskonzept und Leitbild der Stadt Erfurt zum Klimaschutz.

Derzeitiger Stand und Prognose der CO2-Emissionen

In einem ersten Schritt wurde ein Berechnungsmodell entwickelt, um die derzeitigen CO2-Emissionen des Verkehrs abzuschätzen sowie die künftigen Entwicklungen zu prognostizieren.

Ausgangspunkt hierfür ist der CO2-Ausstoß im Stadtgebiet Erfurt nach dem sog. "Territorialprinzip":

Berücksichtigung findet der gesamte innerstädtische Personenverkehr der Erfurter Bevölkerung, der Ein- und Auspendler, der Touristen und der Tagesbesucher sowie der Wirtschafts- und Güterverkehr. Ergänzt wurden die Berechnungen um die CO2-Emissionen aus privaten Flugreisen der Erfurter Bevölkerung ("Verursacherprinzip"), um auch dem besonderen Problem der zunehmenden Fernreisen Rechnung tragen zu können. Im Gesamtergebnis ergibt sich somit aus dem Verkehrsbereich für das Jahr 2008 ein CO2-Ausstoß von rd. 207.000 t (1,04 t/je Einwohner) und – je nach Bevölkerungsentwicklung –

von bis zu 173.000 t (0,94 t/je Einwohner) im Jahr 2020. In diesem "Referenzfall 2020", der von keinen kommunalen Maßnahmen zum Klimaschutz ausgeht, sinkt unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung der spezifische CO2-Ausstoß je Kopf aufgrund der zu erwartenden technischen Fortschritte im Automobilbau in der nächsten Dekade um rd. 10%.

Bürgerbefragung und -beteiligung

Im Frühsommer 2010 erfolgte eine umfassende schriftliche Befragung von knapp 1.000 Erfurterinnen und Erfurtern. Die Befragung erfolgte getrennt nach vier Quartierstypen (Altstadt, Gründerzeitgürtel, Großwohnsiedlungen, dörfliche Gebiete), um spezifische Informationen zum Mobilitätsverhalten, zur Zufriedenheit mit der Versorgungssituation und Verkehrsanbindung sowie zur Akzeptanz möglicher Maßnahmen zum Klimaschutz zu erlangen. Ergänzt wurde diese Befragung durch die Berücksichtigung der Ergebnisse eines im Juni 2010 durchgeführten Internet-Forums, auf dem die Bevölkerung Hinweise und Kommentare zu kommunalen Klimaschutzmaßnahmen geben konnte.

Das in der Befragung ermittelte Mobilitätsverhalten (v.a. zunehmende Pkw-Nutzung in dörflichen Gebieten, starke ÖPNV-Nutzung in Großwohnsiedlungen, hohe Anteile nicht motorisierten Verkehrs in der Altstadt) deckt sich mit anderen Untersuchungen und belegt die Repräsentativität der eigenen Erhebung. Hinsichtlich der Bewertung der Verkehrsangebote ist offensichtlich, dass in allen Quartierstypen mit Ausnahme der ländlichen Gebiete eine sehr große Zufriedenheit mit den Angeboten des ÖPNV besteht; auch bezüglich der Erreichbarkeit wichtiger Ziele mit dem Pkw werden von den Erfurterinnen und Erfurtern tendenziell keine Probleme gesehen. Durchweg überwiegend schlecht werden dagegen die Erreichbarkeit mit dem Fahrrad sowie die vorhandene Fahrradinfrastruktur bewertet. Die möglichen Maßnahmen zur Verbesserung des Radverkehrs in der Stadt Erfurt genießen demzufolge auch die höchste Akzeptanz in der Bevölkerung, wogegen Maßnahmen zur Beschränkungen des motorisierten Individualverkehrs meist wenig

Szenarienauswahl und Handlungsziele

Um zu einer zielgerichteten Auswahl von Maßnahmenempfehlungen zu gelangen, wurde in einem anschließenden Arbeitsschritt anhand des Emissions- und Prognosemodells berechnet, welche konkreten Handlungsziele (Verkehrsvermeidung, Verlagerung auf umweltfreundliche Verkehrsmittel, Effizienzsteigerung) zur CO2-Minderung erreicht werden müssen. Bei diesen Berechnungen wurde auf folgende Szenarien eingegangen:

  • "Referenzfall 2020", d.h. Entwicklung ohne kommunale Maßnahmen zum Klimaschutz
  • "Minimalzielvariante 2020", d.h. Verringerung des spezifischen CO2-Ausstoßes je Kopf bis 2020 um 20%
  • "Vorbildvariante 2020", d.h. Verringerung des spezifischen CO2-Ausstoßes je Kopf bis 2020 um 30%
  • "Langfrist-Szenario 2050", d.h. Verringerung des spezifischen CO2-Ausstoßes je Kopf bis 2050 um 80% 

In allen Szenarien ist die Verlagerung des motorisierten Verkehrs auf die klimaverträglicheren Verkehrsmittel des Umweltverbundes (Fußverkehr, Radverkehr, ÖPNV) ein entscheidendes Mittel zum Erfolg (vgl. Abbildung 60). In den Szenarioberechnungen steigen die Anteile des ÖPNV von derzeit 23,8% in der "Minimalzielvariante 2020" auf 25,5%, in der "Vorbildvariante 2020" auf 27,5% und liegen im "Langfrist-Szenario 2050" bei 40%, um die jeweiligen Klimaschutzziele zu erreichen. Noch höher sind die nach den Berechnungen erforderlichen Zuwachsraten im Radverkehr von derzeit 8,3% über 12% ("Minimalzielvariante") und 15% (Vorbildvariante") auf 20% im "Langfrist-Szenario 2050". Diese Werte sind insbesondere für den ÖPNV zweifellos ambitioniert, werden aber keineswegs als unrealistisch eingeschätzt.

Schließlich wird für den Bereich des Luftverkehrs in allen Mittelfristszenarien bis 2020 ein weiteres Wachstum unterstellt, doch gilt es im Zuge des Klimaschutzes dieses Wachstum zu dämpfen und langfristig auf die Fluggewohnheiten des Jahres 2008 zurückzukommen.

Ein weiteres wichtiges Standbein zur Verringerung des CO2-Ausstoßes wird auch in Zukunft die Effizienzsteigerung sein. So wird in allen Szenarien eine Senkung der CO2-Emissionen je Fahrzeugkilometer angenommen, deren Entwicklung sich allerdings zumeist der kommunalen Einflussnahme entzieht. Hinsichtlich der Verbreitung solcher verbrauchsamer oder sogar emissionsfreier Fahrzeuge im Stadtgebiet bestehen allerdings durchaus Handlungsmöglichkeiten, die in den Szenarien in unterschiedlichem Maße von der Stadt genutzt werden.

Maßnahmenempfehlungen zum Klimaschutz im Verkehr

In einem abschließenden Kapitel wurden schließlich eine Abschätzung der möglichen kommunalen Maßnahmen zum Klimaschutz vorgenommen und aufgrund der Wirksamkeit, der Umsetzbarkeit, der Kosten sowie der Akzeptanz in der Bevölkerung Maßnahmenempfehlungen entwickelt. Diese wurden wiederum in prioritäre Sofort- und Langfristmaßnahmen sowie in Ergänzungsmaßnahmen unterschieden, die sich in den folgenden Maßnahmenbündeln zusammenfassen lassen:

Maßnahmen zur Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs

Primäres Ziel muss es sein, die auch hinsichtlich des Klimaschutzes bereits sehr hohe Qualität des ÖPNV (dichtes Angebot im engeren Stadtgebiet, ÖV-Bevorrechtigungen, Nutzung von Naturstrom) zu erhalten. Längerfristig können neue Kunden vor allem durch Angebotsverbesserungen in den eher dörflich strukturierten Stadtteilen sowie durch tarifliche Maßnahmen gewonnen werden. Weitere Potentiale werden auch im Bereich der Pendler und des Einkaufsverkehrs durch Angebotsverbesserungen (auch im Umland) sowie Netzanpassungen gesehen. Diese Maßnahmen besitzen in der Regel eine hohe Akzeptanz, werden aber den Zuschussbedarf des ÖPNV langfristig erhöhen.

Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs

Die derzeit unterdurchschnittliche Fahrradnutzung in Erfurt sowie die Ergebnisse der Bürgerbefragung zeigen, dass im Bereich des Radverkehrs noch erhebliche Potentiale zur CO2-Minderung bestehen. Primär ist zur Abstimmung der weiteren Bausteine kurzfristig eine Radverkehrskonzeption zu erstellen. Langfristig sind die drauf aufbauenden Maßnahmen wie Ausbau des Radwegenetzes, Verbesserung der sonstigen Infrastruktur und weitergehende Bevorrechtigungen für den Radverkehr zur Erreichung der Klimaschutzziele unerlässlich.

Maßnahmen zur Förderung des Fußgängerverkehrs

Der Fußgängerverkehr ist ein wichtiges Standbein einer klimaschutzorientierten Mobilitätsentwicklung. Kurzfristig höchste Priorität wird hier der Erarbeitung einer Fußgängerkonzeption eingeräumt, in der die Perspektiven und Handlungserfordernisse eines attraktiven, barrierefreien Fußgängerverkehrs in der Stadt und den Stadtteilen aufzuzeigen sind. Daraus abzuleiten langfristige Priorität besitzt die sukzessive Erweiterung und Modernisierung von Fußverkehrsflächen sowie die verstärkte Anlage weiterer Fußgängerüberwege und Querungshilfen für Fußgänger.

Maßnahmen zur Begrenzung des motorisierten Individualverkehrs

Um einen Umstieg vom eigenen Auto auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes zu erreichen, werden neben den o.g. Anreizen auch Maßnahmen zu einer allmählichen De-Attraktivierung des MIV erforderlich sein. Kurzfristig sollte das Anwohnerparken sowie die Einrichtung verkehrsberuhigter Zonen weiter vorangetrieben werden. Die für den Klimaschutz sehr wirkungsvollen und mit nur geringen Kosten verbundenen kommunalen Maßnahmen wie eine Kapazitätsbeschränkung (Straßensperrung/-beschränkung, Parkraumverknappung) oder Verteuerung des Parkraums sind meist wenig populär. Die Vorbereitung dieser Maßnahmen sollte dennoch unbedingt angegangen werden, um den Weg zu einem klimafreundlichen Stadtverkehr nicht zu gefährden.

Maßnahmen zur Klima-Optimierung des Wirtschaftsverkehrs

Beim Wirtschaftsverkehr sollten in einer ersten Stufe Modellvorhaben zum Einsatz von Elektrofahrzeugen erprobt werden, um künftige diesbezügliche Handlungspotentiale zu ermitteln. Weitere Minderungspotentiale zur Effizienzsteigerung sowie zur verstärkten Nutzung klimafreundlicher oder -neutraler Fahrzeuge werden durch eine abgestimmte kommunale Logistikstrategie gesehen. Geeignete Maßnahmen können hier Beschränkungen von Liefermöglichkeiten durch klimaschädigende Fahrzeuge sowie nicht zuletzt die Umrüstung des eigenen kommunalen Fuhrparks sein.

Maßnahmen zur Öffentlichkeitsarbeit und Bürgerinformation

Alle genannten Maßnahmen bedürfen einer sorgfältigen Abstimmung und Vorbereitung und sind ohne die Einbeziehung der Erfurter Bevölkerung nicht erfolgreich durchzuführen. Viele Erfolge setzen unmittelbar beim Verhalten der Bevölkerung an (Verkehrsmittelwahl, Fahrverhalten), andere werden ohne umfangreiche begleitende Informationen auf eine geringe Akzeptanz stoßen.

Im Gesamtergebnis kann der vorliegende Bericht zum Einen die Handlungserfordernisse, die sich für die Stadt Erfurt im Zuge einer konsistenten Klimaschutzkonzeption im Bereich von Verkehr und Mobilität ergeben, systematisch aufzeigen sowie konkrete quantitative Handlungsziele benennen. Zum Anderen werden die prioritären Maßnahmen genannt, die von der  Stadt Erfurt kurz- und langfristig zu ergreifen sind, um die gesteckten Klimaschutzziele bis 2020 zu erreichen. In einem nächsten Schritt für die Stadt Erfurt muss es darum gehen, die prioritären Sofortmaßnahmen kurzfristig zu beginnen sowie die prioritären Langfristmaßnahmen abzustimmen und zu einem integrierten Lösungskonzept zusammenzuführen.

Neben der Erreichung der Klimaschutzziele werden viele dieser Maßnahmen auch dazu beitragen können, die Lebens- und Standortqualität der Stadt Erfurt insgesamt zu erhöhen und weitere verkehrspolitische Zielsetzungen wie die Erhöhung von Verkehrssicherheit und städtebaulicher Aufenthaltsqualität, die Daseinsvorsorge in peripheren Stadtteilen oder die Reduzierung von Lärm- und Feinstaubemissionen im Stadtgebiet zu verfolgen.