Anselm Hartinger: Wie viele Worte braucht der Mensch?

06.11.2014 08:17

Eine spannende Frage, die an jene öffentlichen Preisausschreiben erinnert, wie sie in der Aufklärungsepoche auch die Erfurter Akademie der Wissenschaften an die Gelehrtenrepublik richtete, um sowohl das moralische Bewusstsein der Zeitgenossen zu stärken als auch Wege zu einer vernunftgemäßeren Gesellschaftsverfassung zu erkunden. Während Fragestellungen dieser Art seinerzeit die Sprachlosigkeit zwischen Regierenden und Regierten sowie zwischen Entscheidern, Experten und Entmündigten überwinden wollten, ringen wir heute eher darum, einer von Informationen, Werbeclaims und Worthülsen überfluteten Welt einen Rest an lebendiger und verbindlicher Kommunikation zu bewahren.

Anselm Hartinger: Wie viele Worte braucht der Mensch?

Ein Herr, lächelnd, vor einem historischen Portal mit der Aufschrift "Gott spricht es so geschiechi Es"
Foto: Dr. Anselm Hartinger Foto: © Stadtverwaltung Erfurt / D. Urban

Denn, eins vorweg: Nein, der Mensch braucht nicht sonderlich viele, er braucht oft gar keine Worte. Fast alles wirklich Wichtige vollzieht sich nonverbal – in Augenblicken, Berührungen und Gesten. Zwischenmenschliche Nähe lebt ebenso wie die Kunst von dieser wortlosen Verständlichkeit, die etwa selbst einem nicht des Italienischen oder heute (D)Englischen Kundigen unmittelbar hörbar macht, ob es in einer Opernarie oder einem Poptitel um Rache, Trauer oder beschwingtes Verliebtsein geht. Oder dieses essentiell Wichtige ist durch Statusunterschiede oder soziale Konfigurationen ohnehin zementiert. Alte Staatsgemälde oder Stifteraltäre halten dies mit ihrer nach dem Rang der Dargestellten abgestuften Bedeutungsperspektive ebenso fest wie die Sitzordnungen und Auftrittsrituale des Fernsehens. Denn die wahren Verhältnisse zwischen Menschen – Macht, Autorität, Abhängigkeiten – sind kaum hinwegzureden; sie stehen zumindest auf Zeit fest und damit immer irgendwo im Raum. Das geläufige Sprechen über bessere oder gar „herrschaftsfreie“ Kommunikation ist daher als Korrektiv autoritären Handelns unerlässlich, manchmal jedoch auch ein Schleier, der über die tatsächlichen Verhältnisse gebreitet wird – ein „Euphemismus“, eine Wortsalbe von zweifelhafter Wohltat, deren Unzulänglichkeit es in aufklärerischer Absicht herauszuarbeiten gilt.

Und dennoch: Wir brauchen die Worte, und dies nicht nur, weil Reden buchstäblich Fäuste öffnet und zur Sprache gebrachte Konflikte dadurch ebenso verhandelbar werden wie das öffentlich geteilte Wort Gemeinschaft und Verlässlichkeit stiftet – im Gerichtssaal wie vor dem Traualtar, in der Schwurgemeinschaft mittelalterlicher Kommunen wie im demonstrativ laut vorgetragenen Benutzergelöbnis der Bodleian Library zu Oxford. Wir brauchen sie auch, weil Worte so schön sind, wie es die Metapher vom „Wort-Schatz“ verheißt, und weil Sprache als poetische Weltannäherung mehr meint als ein System eindeutiger Bezeichnungen. Sie macht uns wesentlich zum Menschen – man schaue nur, wie kleine Kinder darum ringen, mitzureden und verstanden zu werden –, und eröffnet uns sowohl die Perspektive des partizipierenden Citoyens wie des eloquenten Weltbürgers. Antike Rhetoren, frühneuzeitliche Prediger und zu allen Zeiten die Dichter haben dies gewusst und uns eine Fülle an Zwischentönen, Bildern und sprachlichen Schattierungen geschenkt, die unser Leben bereichert und erleuchtet. Natürlich: Verwaltungsvorgänge und Führungsstrukturen legitimieren sich auch durch eindeutige Ansagen und pauschalisierte Begründungen, und selbst als Museumsmacher operieren wir im Dienste der Verständlichkeit mit klassifizierten Auffassungsniveaus und gedeckelten Zeichenzahlen. Doch bleibt es unsere eigentliche Bestimmung, Geschichte(n) zu erzählen und Menschen damit zu verzaubern. Und dafür brauchen wir neben fachlicher Kompetenz und persönlicher Präsenz immer das treffende Wort, das unwiederholbar und für einen Moment fernste Welten und Zeiten heraufbeschwören kann. Keine noch so ausgefeilte mediale Präsentation wird dies allein leisten oder gar ersetzen können; nur wer auf noch so unvollkommene, aber doch individuelle Weise glaubwürdig etwas sagt, kann hoffen, dass ein anderer sich gemeint fühlt.

Als ich in Leipzig aufwuchs, wohnte in unserer Straße ein Schlagersternchen der späten DDR: Maja- Cathrin Fritzsche. Ihr Ruhm ist bald zwischen den Pfützen und bröckelnden Fassaden der Leipziger Nordvorstadt verglüht – eine einzige Titelzeile habe ich jedoch noch heute im Gedächtnis, weil sie stimmt und mehr ist als eine philiströse Floskel: „Freundliches Wort ist der Schlüssel zum Glück/ trägst du es fort, kommt es zu Dir zurück“. Ich fühle mich dadurch bestätigt, wenn ich mit einer scherzhaften Aufmunterung jemanden aus seinem Morgengram reiße, und ich stolpere zu meinem Glück darüber, wenn mich geschlossene Schalter, abweisende Gesichter oder verspätete Bahnen in Ungeduld und Verärgerung versetzen wollen.

Es kommt also nicht auf die Zahl, sondern auf das rechte, das richtige Wort an. „Wie viel“ heißt insofern auch: „Was“ für ein Wort braucht der andere Mensch gerade, mit welchem Bild, welcher sprachlich geformten Version kann ich ihn öffnen und erreichen, auf welche Deutung eines Ereignisses, einer Entwicklung oder auch Krisensituation können wir uns einigen. Dies zu erkennen und gegen den Strich zu lesen, ist nicht zuletzt Handwerk des Historikers, der hinter dem Wortgestrüpp oder in den Leerstellen der Quellen das Ungesagte und Unsagbare, weil womöglich Unerhörte und Undenkbare finden will. Von dieser Suche nach Wegen und Worten, die dabei helfen, mit sich, der Welt und miteinander auszukommen, wäre auch im Alltag viel zu lernen. Um jeden Preis beim einmal getroffenen Wort oder auch „bei der Wahrheit zu bleiben“, mag manchmal Tugend, kann aber auch Rechtfertigung dogmatischer Engstirnigkeit sein – wie nicht nur die für Erfurt so einschneidende Epoche der konfessionellen Zwistigkeiten lehrt. Die frohe Botschaft des auf Gnade und Hinwendung statt Strafe und Gesetz gegründeten „Evangelion“ wäre dann – für heute gewendet und säkular geöffnet – eine Lehre vom aufrichtigen, verständnisvollen, belehrbaren und bitte nicht zu bierernsten Sprechen und (Zu)Hören.

Anselm Hartinger