Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute

11.05.2019 10:00 – 27.10.2019 18:00

Die Ausstellung zeigt die Alltagsgeschichte von Judenfeindschaft und Rassismus seit dem 19. Jahrhundert. Sie verdeutlicht auch, wie sich Gruppen und Einzelne immer wieder gegen Hetze, Hassparolen und -bilder zur Wehr setzen.

Blick in die Ausstellung "Angezettelt". Zu sehen sind Banner und Texttafeln sowie eine Bank und ein Stehpult.
Blick in die Ausstellung "Angezettelt. Antisemitische Aufkleber von 1880 bis heute" Foto: © Stadtverwaltung Erfurt
27.10.2019 18:00

Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute

Genre Ausstellung
Veranstalter Stadtverwaltung Erfurt, Erinnerungsort Topf & Söhne
Veranstaltungsort Erinnerungsort Topf & Söhne, Sorbenweg 7, 99099 Erfurt
workTel. +49 361 655-1681+49 361 655-1681

Weitere Informationen

Buslinie 9 Richtung Daberstedt, Haltestelle (Spielbergtor), 4 Minuten zu Fuß links dem Nonnenrain folgen

B7 Richtung Weimar, Parkplatz an dem Erinnerungsort

Teilweise eingeschränkter Zugang, siehe nachfolgende Beschreibung

Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute

Foto: Blick in die Ausstellung "Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute" Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Jeder kennt sie und überall kleben sie: im Kinderzimmer, auf Toilettentüren, auf Straßenschildern. Seit dem späten 19. Jahrhundert sind Aufkleber massenhaft verbreitet. Klein, teilweise unscheinbar, sind sie oft alles andere als harmlos, denn die Aufkleber, Marken und Sticker propagieren Judenfeindlichkeit, Rassismus und Hass gegen Minderheiten. Anhand von Klebezetteln lässt sich die Geschichte des Antisemitismus und Rassismus vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute erzählen. Sie transportieren Feindbilder, schüren Vorurteile und rufen zum Teil unverhohlen zu Verfolgung und Gewalt auf.

Die Ausstellung zeigt Sticker, Marken und Sammelalben, die diskriminierende und menschenverachtende Parolen im Kleinformat verbreiten. Sie macht historische Vorbilder aktueller Hassparolen und -bilder sichtbar und zeigt auch die Wandelbarkeit gruppenfeindlicher Ideologien: Je nach Zeitkontext und politischen Gegebenheiten ändern sich die Vorwürfe, die gegen bestimmte Gruppen mobilisiert werden, oder werden alte Unterstellungen neuen Feinden zugeordnet. Das schnelllebige Medium der Klebezettel zeigt Selbst- und Weltbilder der neuen Rechten und ihre Nähe zu den Ideengebern der alten Rechten.

Angezettelt führt vor Augen, wie durch alltägliche soziale Praktiken aus Juden, Geflüchteten, Muslimen und Frauen Objekte des Hasses werden, wie Feind-Bilder geprägt und verbreitet werden. Neben Hass und Hetze findet aber auch die Gegenwehr ihren Ausdruck in diesem Kommunikationsmittel. Die Ausstellung macht die Strategien deutlich, mit denen sich Organisationen und Einzelpersonen zur Wehr setzen. Die Angefeindeten, engagierte Einzelne und gesellschaftliche Gruppen, setzen der Bilderflut eigene Motive entgegen und begegnen den aggressiven Botschaften mit Fantasie und Ideenreichtum.

Eine gemeinsame Ausstellung des Zentrums für Antisemitismusforschung TU Berlin, des Zentrums jüdische Studien Berlin-Brandenburg und des NS-Dokumentationszentrums München

Schwerpunkte der Ausstellung

Foto: Klebezettel des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, um 1900 Foto: © Sammlung Wolfgang Haney, Berlin

1. Langlebige Weltbilder

Entstehung des modernen Antisemitismus

Der Begriff Antisemitismus wird um 1879 geprägt. Er bezeichnet die Ablehnung von Juden, die vor allem mit den Argumenten begründet wird, Juden seien eine eigene "Rasse" und die "Verkörperung des Kapitals". Die Zeit nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 ist von gesellschaftlichen Veränderungen in allen Lebensbereichen gekennzeichnet. Die Weltanschauung der Antisemiten macht Juden für die sozialen Erschütterungen verantwortlich, liefert eine Gruppe von Schuldigen und schließt diese aus der Gesellschaft aus.

Wehrt euch!

Selbst und selbstbewusst im Licht der Öffentlichkeit die eigenen Belange zu vertreten, ist das Ziel des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV). Der 1893 gegründete Verein tritt an, die staatsbürgerlichen Rechte zu verteidigen und Angriffe auf die gesellschaftliche Gleichberechtigung abzuwehren. "Wehrt euch!" lautet ein Motto. Schnell wird die Vereinigung zur wichtigsten politischen Vertretung der deutschen Juden.

Hetze im privaten Umfeld

Antisemitische Marken und Briefverschlussmarken sind bereits im Kaiserreich populär, aber nach dem Ersten Weltkrieg nimmt die Hetze noch einmal zu. Im privaten Umfeld signalisieren die massenhaft genutzten Klebemarken und -zettel die Zugehörigkeit zu einem bestimmten politischen und kulturellen Milieu. Der Centralverein druckt als Reaktion auf die judenfeindlichen Marken eigene Klebezettel, die er unter den Mitgliedern bewirbt und vertreibt. Er beweist dabei Sinn für Ironie und Guerillataktik.

Rassismus, Sexualität und Gewalt

Nach dem Ersten Weltkrieg besetzen alliierte Truppen Teile des Rheinlands. Die Stationierung französischer Kolonialsoldaten aus Nordafrika und dem Senegal löst massive Proteste in der deutschen Bevölkerung aus. In einer mehrjährigen Kampagne unter dem Schlagwort "Schwarze Schmach" wird gegen all jene gehetzt, die nicht dem Bild des weißen Mitteleuropäers entsprechen. Die Agitation wird getragen von der "Sorge um die deutsche Frau" und der Angst um die "Reinheit der Rasse". Die Bilder der Kampagne zeigen die enge Verbindung zwischen Rassismus, Sexualität und Gewaltfantasien.

Wechselwirkungen

Das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus wird kontrovers diskutiert. Fest steht, dass beide Ressentiments zum Teil ähnliche Funktionen erfüllen und oft gemeinsam auftreten. Beide Feindbilder weisen aber auch deutliche Unterschiede auf. Häufig wird Juden im Antisemitismus eine besondere Nähe zu Geld und Macht oder verschwörerisches Handeln unterstellt. Den Opfern von Rassismus wird dagegen meist natürliche oder kulturelle Unterlegenheit zugeschrieben. Auf Klebezetteln lässt sich beobachten, dass in bestimmten historischen Situationen antijüdische Bilder gemeinsam mit anderen Feindbildkonstruktionen auftreten. Bildpropaganda gegen eine Gruppe bedient sich visueller Strategien der Diffamierung, die schon aus den Angriffen auf andere Gruppen bekannt sind. Die Feindbilder verstärken sich so gegenseitig.

Foto: "Kauft nicht bei Juden!", Antisemitische Briefsiegelmarke, 1896 Foto: © Sammlung Wolfgang Haney, Berlin

2. Drohung und Wirklichkeit

Zettelkriege

Bereits im 19. Jahrhundert werden Aufkleber an Häuserwände, Schaufenster oder Laternen geklebt. Ganz unterschiedliche Botschaften sind so schnell und anonym angebracht. Klebezettel stecken Reviere ab und verbreiten Weltbilder, zum Teil rufen sie auch zu Gewalt auf. Der Normverstoß des wilden Klebens verleiht ihnen besondere Aufmerksamkeit. In Kneipen, Büros oder Vereinshäusern markieren Klebezettel Räume, in denen sich unterschiedliche Menschen begegnen. Sie signalisieren dem Betrachter, mit wem er den Ort teilt. Unmittelbar empfindet man sich zugehörig oder abgelehnt. In den 1920er Jahren toben wahre Zettelkriege zwischen Gegnern und Befürwortern der Weimarer Republik. Der Kampf um den öffentlichen Raum geht der Machtübernahme der Nationalsozialisten voraus. Dazu gehört Gewalt bei Kundgebungen und Umzügen. Der Kampf wird aber auch mit politischen Symbolen ausgetragen, schließlich vermitteln diese in maximal verdichteter Form Botschaften und wecken Emotion.

Foto: Klebezettel der Eisernen Front, um 1930 Foto: © Sammlung Wolfgang Haney, Berlin

Markiert und Ausgeliefert

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten stehen antisemitische Klebezettel im Einklang mit staatlicher Politik. Sie werden im Wahlkampf verteilt, an Häuser und jüdische Einrichtungen geklebt und als verkleinertes Plakat genutzt. Aus dem symbolischen Ausschluss von Teilen der deutschen Bevölkerung aus der "Volksgemeinschaft" wird nun ein faktischer. Aufkleber dienen der Stigmatisierung. Anonym tragen sie judenfeindliche Hetze und verunglimpfende Bilder an alle erdenklichen Orte. Nirgendwo ist man sicher vor der Pflege des Feindbildes und vor der verbalen Gewalt, die der physischen Gewalt vorausgeht.

"Allerorten und bei jeder Gelegenheit"

Als Reaktion auf das Erstarken der Nationalsozialisten schließen sich Ende 1931 das Reichsbanner, verschiedene Arbeiter-, Turn - und Sportvereine sowie gewerkschaftliche Organisationen in der Eisernen Front zusammen. Symbol des Bündnisses sind drei Pfeile, mit denen die Aktivisten Hakenkreuze im Straßenbild übermalen. "Zeige allerorten und bei jeder Gelegenheit Bekennermut" ruft das linke Bündnis seine Anhänger auf. Dazu dienen auch die zahlreichen Klebezettel der Eisernen Front.

Lebenszeichen aus dem Untergrund

Propaganda, Überwachung und Terror beherrschen die öffentliche Kommunikation im Nationalsozialismus. Nach 1933 stammen subversive Klebezettel hauptsächlich von Mitgliedern der KPD, SPD und regionalen Splittergruppen, die häufig die Aufkleber im Ausland produzieren. Zumeist bringen kleine konspirative Gruppen oder Einzelpersonen gegen den Nationalsozialismus gerichtete Klebezettel in die Öffentlichkeit. Das nationalsozialistische Regime bestraft das Kleben solcher Marken, wie alle Aktionen des Widerstands, drakonisch.

Foto: Sticker gegen die Aufnahme von Geflüchteten, 2015 Foto: © Sammlung Irmela Mensah-Schramm, Berlin

3. Bilder und Botschaften

"Verteidigt das Abendland"

Zahlreiche Aufkleber rufen auf zur Ausgrenzung von Muslimen und islamischer Kultur. Der Bau von Moscheen wird auf islamfeindlichen Stickern grundsätzlich abgelehnt und die Islamisierung wird als eine jahrhundertealte, wiederkehrende Bedrohung gezeichnet. Um diese behauptete Gefahr abzuwehren, beschwören manche Gruppen ein kriegerisches, christliches Europa. In dieser Logik dient der Islam zur Rechtfertigung eigener Gewaltfantasien, die sich immer häufiger in Anschlägen auf islamische Einrichtungen äußern.

One-Way-Tickets

Gefälschte Eisenbahnkarten, mit denen Juden aufgefordert werden, das Land zu verlassen, werden bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf deutschen Bahnhöfen verteilt. 1934 berichtet ein jüdischer Zahnarzt, wie ihm im Konzentrationslager unter Hohngelächter eine "Freifahrkarte nach Jerusalem" in die Hand gedrückt wurde. Vertreibungsfantasien gehen schon früh der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik voraus.

"… fordern wir auf das Land zu verlassen."

Heute verwenden Rechtsextreme verwandte Motive und Propagandamittel. Sie produzieren imitierte Flugtickets und schicken sie an Menschen mit Namen, die in ihren Ohren nicht Deutsch klingen.

Umgedeutet

Ein Warnschild auf einem kalifornischen Highway zeigt zuerst das Bild fliehender Menschen. Eine Antifa-Gruppe übernimmt das Motiv, fügt den Satz "Refugees welcome – bring your families" hinzu. Das Logo verbreitet sich rasch und wird weltweit zu einem Symbol der Willkommenskultur. Rechtspopulistische Gruppen greifen wenig später das Zeichen auf und manipulieren es. In gleichen Farben, aber in umgekehrter Bildrichtung und ergänzt um einen Zug mit der Aufschrift "Destination Africa" verkehren sie die ursprüngliche Botschaft in ihr Gegenteil. Geflüchtete wiederum berichten, dass sie die Sticker als Orientierungshilfe nutzen. Die kurzen Botschaften "welcome" bzw. "not welcome" markieren den Raum, die Kneipe oder den Stadtteil als für sie potentiell sicheres oder unsicheres Gebiet.

Israel als Projektionsfläche

Nach dem Massenmord an den europäischen Juden wird 1948 der Staat Israel als Zufluchtsort für Juden aus aller Welt gegründet. Doch seitdem steht das Land immer wieder in militärischen Konflikten und medialen Auseinandersetzungen. In Deutschland prägen ambivalente Emotionen die Haltung zu Israel. Oft wird Kritik an der Politik der israelischen Regierung vermischt mit antisemitischen Stereotypen und im Angriff auf Israel entlädt sich das Ressentiment gegen Juden. Dieses Muster findet sich auch auf zahlreichen Aufklebern. Mit Parolen wie "Israel war gestern" oder "Bomben auf Israel" wird das Existenzrecht des Staats bestritten. Solche Aufkleber stehen für Facetten eines Antisemitismus, der letztlich Juden nirgendwo ein Lebensrecht zugestehen will – auch nicht in Israel.