Offener Brief des Oberbürgermeisters zur Flüchtlingspolitik – Forderungen an die Bundesregierung und an den Freistaat Thüringen

26.08.2015 09:45

Oberbürgermeister Andreas Bausewein hat sich gestern mit folgendem Brief zur Flüchtlingspolitik an die Bundeskanzlerin und an den Thüringer Ministerpräsidenten gewendet. Der Brief basiert auf den Erfahrungen, die die Stadtverwaltung Erfurt in den letzten Wochen und Monaten gesammelt hat und soll einen Beitrag zur sachlichen Diskussion leisten.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, 

die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, ist steigend. Die Prognosen werden in immer kürzeren Abständen nach oben korrigiert. Wie lange dieser Zustand anhalten wird, ist nicht in Sicht. Die Unterbringung und Versorgung dieser Menschen ist eine Aufgabe, der wir uns nicht nur aus moralischen Gründen stellen müssen, sondern für die ein effizientes Regel­werk initiiert werden muss. Die zunehmende Anzahl der aufzunehmenden Flüchtlinge stellt eine außerordentliche Belastung insbesondere für die aufnehmenden Kommunen dar. Fest steht: Wir stoßen mit dieser Aufgabe nicht nur an unsere Grenzen, wir haben sie bereits überschritten.

Basierend auf den Erfahrungen der letzten Wochen und Monate und ange­sichts der Tatsache, dass die Stimmung innerhalb der Bevölkerung zu kippen droht und ich kein weiteres „Heidenau“ – weder in Erfurt noch in einer anderen Stadt – haben möchte, sehe ich mich veranlasst, Ihnen als Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Erfurt diesen Brief zu schreiben und folgende Forderungen zu formulieren:

Überarbeitung der Liste sicherer Herkunftsländer und keine Verteilung auf die Kommunen. Die bestehende Liste der sog. sicheren Herkunftsländer muss dringend überarbeitet und den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. Asylsuchende, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit als ausreisepflichtig festgestellt werden, sollten bestenfalls in einem beschleunigten Verfahren das Land verlassen müssen und nicht erst auf die kommunalen Aufnahmestellen verteilt werden.

Zügige Ausreise unmittelbar ausreisepflichtiger und abgelehnter Asyl­bewerber. Die Ausreise von Asylbewerbern, die nicht als Flüchtlinge aner­kannt werden, deren Asylgesuch abgelehnt wird und die keinen Anspruch auf Duldung haben, sollte konsequent erfolgen und wenn nötig mittels Abschiebung umgesetzt werden. Die vorhandenen Unterkünfte sind vielerorts überfüllt, neue werden eröffnet. Zu den aktuell 19 Gemeinschaftsunterkünften (GU) der Landeshauptstadt Erfurt kommen bis Ende dieses Jahres weitere sechs GUs mit einer Gesamtkapazität von knapp 1000 Plätzen hinzu. Wir wissen bereits heute, dass diese perspektivisch nicht ausreichen werden. Eine konsequente Rückführung der unmittelbar ausreisepflichtigen Bewohner würde hier für etwas Entspannung sorgen – sowohl innerhalb der Einrichtungen als auch in Bezug auf die damit verbundenen Kosten. 

Änderung der Gesetzlichkeit zur Schulpflicht: Aussetzen der Schulpflicht bis zur Feststellung des Aufenthaltsstatus der Kinder/Familien und keine Schulpflicht bei laufenden Verfahren, jedenfalls für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern. Nach aktuell geltendem Recht werden alle schulpflichtigen Kinder zwischen 6 und 16 Jahren nach dreimonatigem Aufenthalt in Deutschland eingeschult. In den speziell geschaffenen Sprachklassen herrscht ein ständiger Wechsel, wenn Kinder ausreisen. Die Zahl der schulpflichtigen Kinder ohne Aufenthaltsstatus ist sehr hoch. Die Kapazitäten der Schulen sind ausgereizt. Die wenigen zur Verfügung stehenden Räume, die bisher nicht in der Nutzung waren, müssen bauseitig hergerichtet werden. Die Kosten (ca. 6000 EUR pro Raum) werden vom Schulträger getragen. Bei gleichbleibend hohen Flüchtlingszahlen muss über den Bau von zusätzlichen Schulen nachgedacht werden, um alle schulpflichtigen Kinder beschulen zu können.

Hinzu kommen folgende, insbesondere an den Freistaat Thüringen gerichtete Forderungen:

  • Anerkennung des von der Kommune als notwendig festgestellten Bewachungsumfangs und vollumfängliche Erstattung der daraus entstehenden Kosten. Die Vorkommnisse in Suhl haben gezeigt, dass die von vielen Kommunen geforderte Anerkennung des 24-Stunden-Wachdiens­tes unumgänglich ist. Allein in Erfurt läuft in diesem Jahr ein Minus von mindestens 600.000 EUR auf, da der Freistaat die vor Ort festgestellt Notwendigkeit nicht anerkennt und die Bewachungskosten nur zum Teil erstattet.
  • Anhebung der Unterkunftspauschale von derzeit 206,00 EUR auf mindestens 245,00 EUR, alternativ Erstattung der tatsächlichen Kosten. Die angespannte Unterbringungssituation hat zu einer enormen Kostensteigerung bei der Anmietung von Unterkünften oder der Beschaffung zugehöriger Dienstleistungen geführt.
  • Anhebung der Betreuungspauschale von derzeit 31,00 EUR auf mindestens 45,00 EUR pro Flüchtling und Monat.
  • Ausweitung der Investitionspauschale auf Einzelunterkünfte.
  • Bei der Beschulung von Flüchtlingskindern mit keinen oder wenigen Deutschkenntnissen sollten diese Kinder bei der Zahlung des Schullastenausgleiches wie Kinder mit Förderbe­darfen behandelt werden, damit der Schulträger die zusätzlichen Kosten für die Ausstattung der Räume erstattet bekommt. Sollte dies nicht möglich sein, sollten die Kommunen ein zusätzliches Budget für die Mehrkosten, die bei der Beschulung von Flüchtlingskindern entstehen, erhalten.
  • Der Freistaat Thüringen sollte Gelder für die Finanzierung von Dolmetschern/Integrations­helfern zur Verfügung stellen, damit die Kommunikation mit den Schülern und Familien gelingen kann.
  • Mit der für Oktober erwarteten Novellierung des SGB VIII zum Thema UMA/UMF und dem avisierten Inkrafttreten ab dem 01.01.2016 bedarf es dringend und sehr zeitnah einer darauf bezogenen Landesgesetzgebung und entsprechender Durchführungsverordnungen/Förder­richtlinien. Insbesondere die Frage der Refinanzierung der Mehraufwendungen für die Kommunen im Bereich Personal- und Sachkosten bedarf einer verbindlichen Regelung.
  • Das Verwaltungsverfahren bei der Abrechnung von Krankheitskosten, insbesondere zur Nachweisführung der Notwendigkeit von Behandlungen durch die Kommune wird entbürokratisiert.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

die vorgetragenen Forderungen ließen sich sicher noch erweitern. Ich bin froh, dass in der Landeshauptstadt Erfurt aktuell eine vorbildliche Willkommenskultur gelebt wird und das Seitens der Verwaltung und der freien Träger alles getan wird, um der Lage Herr zu werden und den Flüchtlingen ein größtmögliches Maß an Würde und Privatsphäre zu gewährleisten.

Aber – das ist kein Erfurter Phänomen – die personellen und finanziellen Ressourcen sind stark belastet und ich befürchte, dass die Stimmung innerhalb der Bevölkerung kippen wird, wenn nicht endlich modifizierte Regelungen auf Bundesebene getroffen werden, die die Aufnahme von Flüchtlingen ordnen. Das Recht auf Asyl ist ein hohes und schützenswertes Gut. Aber Asyl­recht ist nicht gleichzusetzen mit Zuwanderungsrecht. Es bedarf dringend einer Klärung, wie wir mit den Asylbewerbern verfahren, die ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland einreisen. Ich fordere daher ein zeitgemäßes Einwanderungsgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. 

Da auch der Strom der Kriegsflüchtlinge nicht abreißen wird, ist es umso wichtiger, die Kräfte für diejenigen Menschen zu bündeln, die aus größter Not heraus und in Sorge um Leib und Leben ihrer Heimat den Rücken kehren und sich zur Flucht entscheiden.

Ich bitte Sie, im Interesse der Kommunen Deutschlands und der Menschen vor Ort zu handeln – auch, weil es letztlich denen zugutekommt, die unsere Hilfe benötigen.

Mit freundlichen Grüßen

Andreas Bausewein