Denkmal eingeweiht: „Willy Brandt ans Fenster“ leuchtet auf dem Dach des Erfurter Hofs

20.05.2009 21:00

Heute Abend wurde das Denkmal "Willy Brandt ans Fenster" des Berliner Künstlers David Mannstein mit einem großen Fest auf dem Willy-Brandt-Platz eingeweiht. Das Denkmal kombiniert das erleuch­tete historische Willy-Brandt-Fenster, einen Informations-Terminal sowie die Leuchtschrift „Willy Brandt ans Fenster“ auf dem Dach des Erfurter Hofes, der heute Abend zum ersten Mal erstrahlte.

Mit einer virtuellen Zeitreise wurde an die Ereignisse vom 19. März 1970 erinnert: An diesem geschichtsträchtigen Tag kam es im Erfurter Hof zum ersten deutsch-deutschen Regierungstreffen seit der Teilung Deutschlands in zwei Staaten. Ein Ereignis, mit dem Erfurt Eingang in die Europäischen Geschichtsbücher fand, wurde mit diesem Besuch doch die von Willy Brandt skizzierte "Neuen Ostpolitik" eingeleitet. Sein Besuch in Erfurt war ein erster Schritt, der mit der Losung "Wandel durch Annäherung" die Mauer durchlässiger gemacht hat und an deren Ende die Friedliche Revolution von 1989 stand.  

Große Hoffnungen wurden in dieses Treffen zwischen Alt-Bundes­kanzler Willy Brandt und dem damaligen Vorsitzenden des Minister­rates der DDR, Willi Stoph, gesetzt. Darum strömten die Erfurterinnen und Erfurter, trotz zu befürchtender Repressalien, zu Tausenden auf den Bahnhofsvorplatz, um den Bundeskanzler und Hoffnungsträger Willy Brandt zu sehen. Ihr vieltausendfacher Ruf nach "Willy Brandt ans Fenster" überraschte die Regierung der DDR und auch in Moskau. Er sorgte für Schlagzeilen in Ost und West und er blieb dem Politiker zeitlebens im Gedächtnis. In seinen Erinner­ungen schrieb Willy Brandt dazu: "Der Tag von Erfurt. Gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?"  

In Erinnerung an den historischen Anlass und an die Person Willy Brandt, hallten die Rufe der Erfurter heute erneut über den Bahn­hofsvorplatz: Eine multimediale Zeitreise zurück zum 19. März 1970 ließ die Atmosphäre, die damals auf dem Platz herrschte, spürbar werden und erklärte insbesondere der jüngeren Generation, wes­wegen dieses Ereignis den Erfurterinnen und Erfurtern so sehr im Gedächtnis geblieben ist. Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein und der Zeitzeuge Günther Hergt starteten die "Zeitmaschine", die im weiteren Verlauf wichtige historische Eckpunkte bis zur politischen Wende 1989/1990 beleuchtete. Mit der Übergabe des "Staffelstabes" an das Wendekind Maria Madalene wurde die neue Zeit eingeläutet und die Erleuchtung des Denkmals eingeleitet. Tausende Gäste kamen auf den Willy-Brandt-Platz, um bei der Einweihung des Denkmals "Willy Brandt ans Fenster" dabei zu sein und zu Musik von Gotte Gottschalk und der Gruppe Vital zu feiern.    

Das heute eingeweihte Denkmal des Berliner Künstlers David Mann­stein ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, der am 15. September 2006 ausgeschrieben wurde. Der Siegerentwurf führte anfangs zu zahlreichen Diskussionen der Erfurterinnen und Erfurter, die insbe­sondere darum kreisten, den ursprünglich vorgesehen Schriftzug "Willy komm ans Fenster" in den historisch korrekten Ruf "Willy Brandt ans Fenster" zu wandeln. Aus diesem Grund folgen Informationen zum Wettbewerb und die Begründung der Jury sowie eine Anmerkung des Juryvorsitzenden Prof. Dr. Kai Uwe Schierz.

Hintergrund des Wettbewerbs und Jurybegründung 

Der Wettbewerb
Mit dem Teilabriss des alten und dem Neubau des modernen Erfurter Hauptbahnhofs, der damit verbundenen Neugestaltung auch des Bahnhofsvor­platzes, der seit 1990 im Andenken an den großen Politiker Willy Brandt und das geschichtsträchtige Treffen von 1970 in Erfurt "Willy-Brandt-Platz" heißt, und der dadurch angeregten Sanierung, Modernisierung und funktionalen Umwidmung des dem Bahnhof gegenüberliegenden Gebäudekomplexes "Hotel Erfurter Hof" erhielt auch das Bedürfnis nach einer konkreten Form der Ehrung Willy Brandts an diesem Ort eine konkrete Dimension. Der Erfurter Stadtrat beschloss, einen offenen, zweistufigen Wettbewerb um die künst­lerische Gestaltung eines Denkmals zur "Ehrung des Engagements von Willy Brandt zur Annäherung beider deutscher Staaten anlässlich seines Treffens mit dem Ministerpräsidenten der DDR Willy Stoph" auszuloben. Die Sparkasse Mittelthüringen schloss sich durch eine Erhöhung der finanziellen Dotierung des siegreichen Denkmalentwurfs dieser Initiative an.  

Insgesamt beteiligten sich 123 Künstlerinnen und Künstler aus ganz Deutschland an dem Wettbewerb. Am 15. Januar 2007 trat zum ersten Mal die aus sieben Fach­juroren und sechs Sachjuroren bestehende Jury, deren Arbeit auch zwei Sach­verständige begleiteten, im Erfurter Rathaus zusammen. Als Vorsitzender der Jury wirkte Prof. Dr. Karl Schawelka, Weimar. Alle anonym eingereichten Entwürfe wurden gesichtet, diskutiert und bewertet. Schließlich wurden fünf Entwürfe als prämierte Siegerentwürfe der ersten Wettbewerbsstufe ausgewählt. Sie stammten von Karin Sander, Maria Vill, David Mannstein, Annette Munk und Andreas Sachsenmaier. Die prämierten Entwürfe wurden vom 23. bis zum 28. Januar 2007 im Foyer der Kunsthalle Erfurt und auch in der Tagespresse der Öffentlichkeit präsentiert.  

Am 5. März 2007 trat die Jury ein zweites Mal zusammen, nunmehr, um in einer zweiten Wettbewerbsstufe aus den fünf prämierten Denkmalentwürfen den Sieger zu ermitteln. Wegen Verhinderung des bisherigen Juryvorsitzenden wurde Prof. Dr. Kai Uwe Schierz, Erfurt, mit dem Juryvorsitz betraut. Nach der individuellen Prüfung und Beurteilung der von den Wettbewerbsteilnehmer/-innen neu einge­reichten Materialien und drei Abstimmungsrundgängen wurde mit einer Mehrheit von 11 Stimmen der Entwurf "Willy komm ans Fenster" von David Mannstein der Stadt zur Realisierung empfohlen. 

Jurybegründung: Auszug aus dem Protokoll der Jury vom 06.03.2007
Die dreizehnköpfige Jury unter Vorsitz von Prof. Dr. Kai Uwe Schierz hat mit großer Mehrheit den Entwurf von David Mannstein "Willy komm ans Fenster" der Stadt Erfurt zur Realisierung empfohlen. Der Entwurf kombiniert eine Leuchtschrift auf dem Dach des ehemaligen Erfurter Hof mit einem erleuchteten Fenster (dem historischen Willy-Brandt-Fenster) und einem Brandt-Info-Terminal.  

Der besondere Wert der künstlerischen Arbeit "Willy komm ans Fenster" liegt in der Vielschichtigkeit ihrer Bezüge. Sie referiert auf das historische Ergebnis des Erfurter Treffens zwischen Willi Stoph und Willy Brandt 1970 aus der Perspektive der Erfurter Bevölkerung. Zugleich bettet sie den historischen Vorgang mit Hilfe einer poetischen Umdeutung der Rufe, mit denen die Erfurter Bevölkerung Willy Brandt gegen alle Regeln des diplomatischen Protokolls an das Fenster bat, in einen weiten kultur­geschichtlichen Rahmen ein, der mit der Troubadour-Lyrik ansetzt und im Minnesang weiter entwickelt wurde, sich als Motiv aber auch in William Shakespeare Romeo und Juliet und in Mozarts Don Giovanni finden lässt: Ein Liebender bittet die Geliebte, am Fenster zu erscheinen. David Mannsteins Schriftzug ‚Willy komm ans Fenster’ ehrt Willy Brandt und die rufenden Menschen.  

Der Beitrag füllt eine Fehlstelle im Stadtbild, die mit der Umnutzung des Gebäude­komplexes mit dem Hotel Erfurter Hof zu einem multi­funktionalen Dienstleistungs­zentrum entsteht, in dem der Schriftzug auf dem Dach in Form und Dimensionierung die alte Leuchtschrift, Hotel Erfurter Hof, setzt. Mannsteins Schriftzug ähnelt einer Leuchtreklame, hat jedoch, das wird beim Lesen offensichtlich, mit Werbung nichts zu tun. Vielmehr nimmt der Künstler eine Umdeutung vor und ersetzt die werbende Schrift durch eine poetische Sentenz, die ein historisches Ereignis wachruft. Der Satz ‚Willy komm ans Fenster’ macht neugierig und lädt zu weiterem Nachdenken ein – unter anderem über unser Verhältnis zu Willy Brandt heute, ob wir ihm eher als Politiker oder als Mensch nachrufen wollen.  

Von allen eingereichten Beiträgen strahlt die Arbeit von David Mannstein am direktesten und weitesten in die Öffentlichkeit hinein – in den umgebenden Stadtraum und in den ICE-Bahnhof, wo auch Reisende den Schriftzug entdecken können."

Ein umstrittenes Denkmal: Anmerkungen des Juryvorsitzenden Prof. Dr. Kai Uwe Schierz 

Das Denkmal für die Willy-Brandt-Ehrung in Erfurt hat der Künstler David Mannstein (Berlin) geschaffen. Es besteht aus drei Teilen: Erstens einem Schriftzug, ausge­bildet als Leuchtschrift auf dem Dach des Gebäudes, in dem sich früher das Hotel "Erfurter Hof" befand, zweitens einer separat geschalteten Innenraum­beleuchtung jenes Zimmers, an dessen Fenster sich Willy Brandt am19. März 1970 den rufenden Erfurter Bürgern zeigte, und drittens einem Computerterminal, das nähere Informa­tionen zu Willy Brandt, zum deutsch-deutschen Treffen am 19. März 1970 in Erfurt und zur Ostpolitik Brandts sowie zum Erfurter Brandt-Denkmal bereithält. Der Denkmalentwurf von David Mannstein sah die Anbringung des Leuchtschriftzugs „Willy Brandt ans Fenster“ vor. Er ging am 5. März 2007 als Siegerentwurf aus einem zweistufigen offenen Wettbewerb hervor. Im Zuge des nachfolgenden Denkmalstreits wurde der Schriftzug in „Willy Brandt ans Fenster“ abgeändert, jenen Satz also, den die rufende Menge am 19. März 1970 schließlich skandierte, um den deutschen Bundeskanzler zu sehen. Am 20. Mai 2009 wurde das Denkmal feierlich eingeweiht. 

David Mannstein bezieht sein Denkmal topografisch, formal und inhaltlich präzise auf den Schauplatz und die Ereignisse einer historischen Begegnung – des ersten deutsch-deutschen Regierungs­treffens zwischen dem Bundeskanzler Willy Brandt und dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph am 19. März 1970 in Erfurt. An der Stelle auf dem Dach, die früher den Leuchtschriftzug "Hotel Erfurter Hof" trug, installierte er seinen Schriftzug, auch in Größe und Form an den ursprünglichen Schriftzug angelehnt, wie historische Fotografien belegen. Der neue Schriftzug passt sich tagsüber in das bauliche Ensemble ein, er wird beinahe unauffällig, um abends und in der Nacht leuchtend die Aufmerksamkeit umso stärker zu erregen. Auf diese Weise setzt der Leuchtschriftzug sinnbildlich ein Zeichen für ein geschichtliches Ereignis, das auch der erinnernden Aufmerksamkeit bedarf, um dem Vergessen und dem Verlieren, dem Verschwinden im städtischen Alltag zu entgehen. Indem der neue Leuchtschriftzug den alten präzise ersetzt, stimuliert er die Erinnerung an eine Funktion des Gebäudekomplexes, welche dieser heute nicht mehr besitzt und auch nicht mehr erkennen lässt: die Beherbergung eines großen Hotels, in dessen Räumen die kurze Zusammenkunft von Willy Brandt und Willi Stoph stattfand. Das nächtlich erleuchtete Brandt-Zimmer lenkt die Aufmerksamkeit auf den emotionalsten Punkt jener Begegnung 1970, das Erscheinen Brandts am Fenster – ein Ereignis, dass den von der DDR-Führung geplanten Ablauf des Treffens am nachhaltigsten durcheinander brachte, über die westdeutschen Massenmedien vermittelt jedoch wie ein Fanal wirkte, ein Zeichen der Zuwendung, das Veränderung versprach. David Mannsteins Denkmal ehrt mit dem Bezug der beiden gestalterischen Elemente aufeinander nicht nur das Engagement Willy Brandts für eine neue Ostpolitik ("Veränderung durch Annäherung"), sondern zugleich auch die Erfurter Rufer, welche spätere Repressionen in Kauf nahmen, um eine Figur der Hoffnung, den westdeutschen Bundeskanzler Willy Brandt, für einen Moment mit eigenen Augen sehen zu können. Aus der Perspektive der Jahre 1989 und 1990 erscheinen diese Erfurter Ereignisse in einem besonderen Licht. Auch darauf spielt die Form des Denkmals an. Der Künstler hat keine der traditionellen Denkmalformen gewählt, die der idealisierten Vergegenwärtigung einer Persönlichkeit und würdigenden Erinner­ung an sie allein gewidmet sind, sondern eine moderne Form – als konsequenter Ausdruck einer geänderten, zeitgemäßen Auffassung bürgerschaftlicher Repräsen­tation. Ein Denkmal als Anstoß zum Weiterdenken.