Bitte unbedingt im Sekretariat melden!

10.06.2014 13:23

In meiner sechsten Woche lande ich wieder einmal in der Andreasstraße. Ich entdecke eine neue Lieblingsautorin. Und es wird heiß.

Woche 6 (2. Juni bis 8. Juni)

Drei leere Schaukästen, ohne Glaseinsätze, perspektivisch in Reihe fotografiert, dahinter zwei Bäume. Die beiden Stämme bilden das "Bild" des letzten Schaukastens.
Foto: Leere Schaukästen vor der ehemaligen Kleinen Bühne Foto: © Katharina Bendixen

Kultur

Während ich die marode ehemalige Kleine Bühne des Schauspielhauses anschaue, dringt vom benachbarten Schulhof Kindergeschrei an mein Ohr. Dann ein Gong wie in der Oper und eine sanfte Stimme: „Frau Fichte bitte unbedingt im Sekretariat melden, Frau Fichte bitte unbedingt im Sekretariat melden!“ Kultur kann verschwinden, denke ich, und es merkt niemand, das Leben geht weiter. Aber es geht anders weiter.

Leutenegger

In der Bibliothek mache ich einen Zufallsfund: Gertrud Leuteneggers Roman "Panischer Frühling". Nach vier, fünf Seiten lasse ich mich von Leuteneggers Sprache bedenkenlos tragen. Nach zehn oder zwanzig Seiten bin ich völlig elektrisiert. Von dieser Autorin würde ich mir alles erzählen lassen. Während ich das Buch noch lese, suche ich schon andere Veröffentlichungen der Autorin heraus, und kaum habe ich es beendet, beginne ich es wieder von vorn.

Die heile Welt der Diktatur

Und wieder bin ich in der Andreasstraße: Stefan Wolle stellt sein Buch "Der große Plan" vor, über Alltag in der DDR. Und wieder bin ich umgeben von Leuten um die sechzig. Sie raunen, als Stefan Wolle den Text des Weltjugendlieds zitiert, sie lachen, als er aus dem Kapitel über den Lipsi liest. Ich frage mich, was sie hierher getrieben hat: Nostalgie? Wut? Der Wunsch, etwas zu verstehen? Als das Gespräch fürs Publikum geöffnet wird, könnten die Reaktionen nicht unterschiedlicher sein: Ein Zuhörer erzählt eine Anekdote über Niethosen, ein anderer erinnert eindringlich an die Todesopfer. Aber nur drei, vier Zuhörer melden sich zu Wort. Die anderen, was denken die? Was denke ich? Überhaupt, was hat mich hierher getrieben?

Aufgeschnappte Gespräche 6

Vormittags, in der Linie 3, am Anger, vier Frauen um die siebzig
Eine Frau: „Alles wird immer besser … auch das Wetter …“

Offene Fragen

Wie schaffen es die Erfurter, mit ihren Fahrrädern nicht ständig in den Schienen der Straßenbahnen steckenzubleiben? (Mit viel Übung?) Was machen sie, wenn sie einen Film bei Neustart sehen wollen? (Nach Weimar fahren?) Weshalb gibt es so viele Schuhläden? (Liegt es wirklich nur an der früheren Schuhindustrie?) Und wenn ich hier verrate, dass es im Klara Grün den allerbesten Kuchen gibt, bleibt dann noch ein Stück für mich?